Industrial Design trifft Inklusion: Wie Studierende Alltagsprobleme lösen
Ein Trinkflaschenhalter für Personen im Rollstuhl oder ein Joghurt-Öffner für Personen, die nur eine Hand zur Verfügung haben – über 40 Studierende haben interdisziplinär Lösungen für Alltagsprobleme bei komplexen Behinderungen gesucht und gefunden. Bei der zweiten Durchführung des «DigiCamp» der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) haben zum ersten Mal auch die Industrial Designer/-innen HF der Schule für Gestaltung St.Gallen teilgenommen. Sie waren es sich bereits gewohnt, die erstbeste Idee akribisch zu hinterfragen.
Frisch aus dem 3D-Druck kommend, wird ein Flaschenhalter am Rollstuhl von Céline befestigt. «Daran muss ich mich zuerst gewöhnen», sagt sie in Bezug auf die Position direkt neben ihrem rechten Fuss. Als angehender Industrial Designer kennt Stefan solche Diskussionen: «Wir haben während dieser Projektwoche einen spannenden, interdisziplinären Austausch. Dass der Fokus auf Alltagsprobleme bei komplexen Behinderungen liegt, sagt mir zu.» Er designe lieber Nützliches für den Alltagsgebrauch als ein edles, exklusives Möbelstück.
Die insgesamt 44 Teilnehmenden des «DigiCamp» setzen sich zusammen aus Studierenden der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik, der Health Sciences der ETH, der Fachhochschule Ost, der Schule für Gestaltung St.Gallen und des Instituts Unterstrass. Wert voll ist, dass Studierende des Instituts Unterstrass aus dem Projekt écolsiv den sechs Teams zugeteilt wurden. Dadurch ist der Austausch mit Direktbetroffenen gewährleistet. Im Projekt écolsiv werden Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung fit gemacht für eine pädagogische Tätigkeit.
«Diese Zusammenarbeit führt zu coolen Ideen», sagt Jessica, gelernte Grafikerin und angehende Industrial Designerin HF. Den direkten Austausch schätzt sie gerade auch wegen der zeitlichen Begrenzung. Für die Umsetzung der Idee ihres Teams standen etwa zwei Tage zur Verfügung. Entstanden ist ein Prototyp, der das Tippen auf einer Computertastatur unterstützen soll, in dem weniger Kraftaufwand geleistet werden muss. «Die Aufgabengestaltung ist jeweils offengehalten, es gibt auch kein Oberthema», erklärt Jessica. Ihre Gruppe befasste sich mit der Anfrage eines Jugendlichen, der gerne eine kaufmännische Berufslehre absolvieren und die Arbeit am PC gleich schnell wie die Gleichaltrigen ohne Beeinträchtigung erledigen will.
Design Thinking, Software-Prototyping und 3D-Druck
«DigiCamp»-Initiant Ingo Bosse ist begeistert darüber, wie die interdisziplinären Teams vorgehen. Der Professor für ICT for Inclusion an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik erklärt: «Als Grundlage dient die Design-Thinking-Methode. Was hilft Kindern und Erwachsenen mit einer Behinderung?» Die Design-Thinking-Methode wurde zu Beginn der Woche auf dem Campus der Fachhochschule Ost eingeführt, zusammen mit Grundlagen zum Software-Prototyping mit Balsamiq und dem Erstellen von 3D-Druck-Modellen mit Tinkercad oder Fusion 360.
Umgesetzt wurde mit diesem Wissensstand unter anderem eine Brillenputzhilfe für Personen, die nur eine Hand benutzen können. Oder eine Öffnungsvorrichtungen für Verpackungen von Suppen, Backpulver oder Pommes Chips.
Inklusives Design
Aus Sicht von Markus Pawlick, Lehrgangsleiter Industrial Design HF an der Schule für Gestaltung St.Gallen, ist die «DigiCamp»-Woche aus verschiedenen Gründen interessant. Einerseits sei das Thema – Alltagsprobleme bei komplexen Behinderungen – für die Industrial Designer/-innen HF gerade im Bereich «inklusives Design» wichtig. Andererseits gewinnt er den interdisziplinären Teams Positives ab: «Die Zusammenarbeit mit verschiedenen Disziplinen ist eine tolle Gelegenheit für Inputs. In den gebildeten Teams können unsere Studierenden ihre Kompetenzen einbringen.»
Teilnehmer Stefan sagt, er habe sich in seiner Gruppe stärker einbringen können als im Vorfeld gedacht. Im Team habe man auf Augenhöhe diskutiert und jede und jeder habe seine Stärken einbringen und die Idee voranbringen können. Diese Wirkung hat sich Ingo Bosse erhofft. Dass die Industrial Designer/-innen bei der zweiten Ausgabe des «DigiCamp» dabei sein konnte, freut ihn: «Sie sorgen dafür, dass verschiedene Materialien eingesetzt werden. Sie überlegen sich, wie Design eine Funktion unterstützen kann.» Er verweist auf einen Arbeitsraum und sagt: «Dieses Jahr wird gelötet, verleimt, geschliffen und mit Styropor gearbeitet.»
Ergebnisoffen bleiben
An einen Karton denkt gerade Stefan, denn die Trinkflasche am Rollstuhl von Céline ist so platziert, dass sie schmutzig werden könnte. Mit dem Karton will er eine Ablage unter dem Rollstuhl wie bei einem Kinderwagen nachbilden. «Probiert aus und prüft, ob sich diese Position besser eignet», ermutigt Tu Van Giang, Dozentin an der Schule für Gestaltung St.Gallen und eine der sieben Team-Mentoren/-innen während des «DigiCamp». Sie erklärt dem Team, dass man sich in der fünften Design-Thinking-Phase «Prototyping» befinde. Der Trinkflaschenbehälter am Rollstuhl hat einen Weg vom Post-it-Zettel über die grobe Skizze zum ersten 3D-Modell gemeistert. Tu Van Giang erklärt: «Ihr seid schon sehr nahe an einem komplexen Endprodukt. Deshalb würde ich keine zusätzlichen Funktionen einbauen. Überlegt euch, welches Problem ihr prioritär angehen wollt.»
Dieses Vorgehen analog des «Design Thinking»-Ansatzes kennt Stefan nicht erst seit seiner Zwischendiplomarbeit während seiner berufsbegleitenden HF-Weiterbildung. «Ergebnisoffen zu bleiben, ist für mich eine wichtige Einstellung», sagt der angehende Industrial Designer und fügt lachend an: «Am Schluss wird es sogar keine Flasche mehr sein.» Garantiert ist, dass es letztlich eine Lösung für Alltagsprobleme bei komplexen Behinderungen sein wird.