Eine Lesung, die bewegt: Lika Nüssli über Verdingkinder
Statt eine unbeschwerte Kindheit zu erleben, mussten tausende Kinder bis in die 1970er-Jahre oft auf Bauernhöfen harte Arbeit leisten. Viele Schweizer Verdingkinder erlitten Missbrauch, Ausbeutung und Isolation. An der Abteilung Berufsmaturität des GBS St.Gallen berichtete Künstlerin Lika Nüssli über die traumatische Kindheit ihres Vaters. Ihre mit einem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnete Graphic Novel «Starkes Ding» kann in der Mediothek an der Davidstrasse 25 ausgeliehen werden.
Anfang 1949, Mittagszeit. Es klopft unerwartet an der Tür, während die Familie Nüssli isst. «Ich habe von eurer Nachbarin gehört, dass ihr fünf Buben habt. Meine Frau hat einen bösen Fuss und wir könnten jemanden brauchen, der uns beim Einkaufen hilft», sagt der bis dahin unbekannte Mann. Die Eltern von Ernst Nüssli sind froh um einen zusätzlichen Verdienst und ein hungriges Maul weniger. Sie erhalten fortan einen Franken pro Tag.
«‚Er ist schon stark und kann arbeiten...' Damit begründeten die Eltern meines Vaters damals die Fremdplatzierung», berichtete Lika Nüssli. An zwei Nachmittagen las sie vor gut 70 Lernenden an der Berufsmaturität aus ihrem Werk «Starkes Ding» vor. Ihre Lesungen berührten. Die Unbeschwertheit der Kindheit und der harte Überlebenskampf der Toggenburger Bauernfamilien wurden miteinander verwoben geschildert.
Im Comic-Stil
Die St.Galler Künstlerin blendete parallel zur Lesung der Dialoge Zeichnungen aus ihrer Graphic Novel ein, die teilweise von der Senntumsmalerei inspiriert sind. BM-Schülerin Hanna war fasziniert: «Die gezeigten Illustrationen und die von ihr nachgeahmten Tiergeräusche während der Dialoge liessen die Erzählungen lebendig werden.»
Hanna dachte sich, dass die Lesung in diesem Stil stattfinden könnte. Nach dem sie im Unterricht erstmals von Verdingkindern gehört hatte und ein Interview mit Lika Nüssli über ihre Graphic Novel abgespielt wurde, beschäftigte sie sich mit diesem düsteren Kapitel. «Zuvor war mir dieses Thema unbekannt», erklärt sie.
Lika Nüssli leistet mit ihren Lesungen wertvolle Aufklärungsarbeit über eine Form der Kindersklaverei in der Schweiz, die per Gesetz ermöglicht wurde und auf den ersten Blick harmlos klingt: Verdingkinder als Teil der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. «Oftmals auf Bauernhöfen wurden Kinder fremdplatziert, die nur ein Elternteil hatten, Vollwaisen waren oder aus einer armen Familie stammten. Sie mussten hart arbeiten, erhielten nicht genug essen und wurden geschlagen sowie misshandelt», klärte die Dozentin des Gestalterischen Vorkurses für Erwachsene auf. An der Schule für Gestaltung St.Gallen unterrichtet sie das Fach Illustration.
Immer tiefer in die Erinnerungen eingetaucht
Der Startschuss für ein «Starkes Ding» fiel während der Coronapandemie 2020, als Lika Nüssli sieben Wochen lang allein in einer Wohnung in Belgrad isoliert war. In dieser Zeit telefonierte sie regelmässig mit ihrem Vater im Altersheim. Es war nicht nur seine Einsamkeit dort, die sie nachvollziehen konnte. Sie spürte auch die Einsamkeit, die er bereits als Kind erlebt hatte. Den BM-Lernenden erklärte die Autorin: «Personen, die Traumatisches erlebt haben, kann man nicht einfach auffordern: Erzähl mal. Deshalb begann ich mit einfachen Fragen zu seinem Alltag. Nach und nach tauchten wir gemeinsam immer tiefer in seine Erinnerungen ein.»
Über eineinhalb Jahre hat Lika Nüssli mit ihrem Vater über seine Kindheit gesprochen. In dieser Zeit wollte er die Zwischenresultate weder lesen noch sehen. Darüber sagt sie: «Ich bin froh, denn mit meiner Kunst konnte mein Vater nicht viel anfangen. Ausserdem verspürte ich Druck, diesem historischen Thema visuell gerecht zu werden.»
Der böse Fuss und die Weinflasche
Lika Nüssli verriet den Lernenden, dass Zeichnungen verworfen und verändert wurden. Als ihr Vater das finale, 232 Seiten schwere Buch erstmals in den Händen hielt, war er stolz. Zu den Zeichnungen bemerkte er, wie Lika Nüssli mit einem Lachen verriet: «Die sind wild geworden und gefallen mir nicht.» Dabei gehört ein «Starkes Ding» offiziell zu den schönsten Schweizer Büchern. 2023 wurde somit erstmals eine Graphic Novel mit einem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.
Während der Lesung im GBS-Schulhaus an der Davidstrasse zeigte Lika Nüssli die Illustration vom ersten Aufeinandertreffen zwischen Ernst und den Bauernhof-Besitzern. «Wer kann dieses Bild interpretieren?», fragte sie in die Runde.
«Ich wollte allen zeigen, dass ich stark bin»
Die zahlreichen Gespräche mit seiner Tochter haben Ernst Nüssli geholfen, die Zeit als Verdingbub zu verarbeiten. Erstmals im Jahr 2013 unterhielt er sich darüber für zwei Stunden mit einer Psychologin. Auch in dieser Zeit entschuldigte sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Namen der Landesregierung bei den Opfern und verkündete, dass dieses dunkle Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte aufgearbeitet wird. Ausserdem wurde den Verdingkindern Entschädigungsgelder zugesprochen.
Nach der Lesung schwirrten den Lernenden viele Fragen im Kopf herum – wie bei Lika Nüssli während ihrer Recherche. Eine der häufigsten war: Wie hat der Vater diese schreckliche Kindheit überstanden? Seine Antwort: «Ich wollte allen zeigen, dass ich stark bin und es schaffen kann.» Dieser Durchhaltewille imponiert und wurde von Lika Nüssli in einem abschliessenden Ratschlag an die Lernenden aufgenommen: «Geht euren Weg, tut, was ihr liebt, und glaubt an euch.»